Dienstag, 10. Dezember 2024

Das neue Buch von Alexander Estis

Fluchten

Alexander Estis, Administration

31. Oktober 2022, 18:26 Uhr

Als Zwischenergebnis seiner Arbeit in Heilbronn präsentiert Stadtschreiber Alexander Estis sein Buch FLUCHTEN. Denn auch die Flucht kann als ein Phänomen verstanden werden, das der Vemeidung von Folgen verschiedenster Art dient.

Niemand, der nicht schon einmal die Flucht ergreifen wollte – ob vor dem Krieg, vor einer Umweltkatastrophe oder vor einer Hungersnot, ob aus einer langweiligen Gesellschaft, einem sklavischen Arbeitsverhältnis oder einer belastenden Beziehung. Die FLUCHTEN erzählen von gewollten oder ungewollten, realistischen oder absurden, erfolgreichen oder missglückten Fluchtversuchen.

Im Fokus stehen dabei insbesondere Formen des Ausbruchs aus dem gewohnten Lebensumfeld, der gewohnten Identität, dem Familiengefüge, dem Arbeitsverhältnis oder sogar dem eigenen Körper. Die Prosareihe beleuchtet das Phänomen der Flucht aus den verschiedensten Perspektiven, in variierenden literarischen Gattungszusammenhängen und in differenten stilistischen Registern. Eine solche vielstimmige und vielseitige Herangehensweise entspricht dem thematischen, sozialen und psychologischen Facettenreichtum der Problematik.

Der Großteil der Texte spielt ins Grotesk-Surreale hinüber: So versteckt sich ein Betrüger in einem unterirdischen Tunnel, eine Büroarbeiterin verlässt auf der Flucht vor ihrer redseligen Kollegin das Land, der Ratspräsident wird von einer Primatenhorde aufgenommen und ein Partylöwe lässt sich in ein schwarzes Loch fallen. Einer der Protagonisten verlässt sogar die fiktive Welt der Erzählung.

Allerdings hat das Thema der Flucht seit Beginn des Krieges in der Ukraine eine neue, tragische Relevanz erlangt. Der Autor Alexander Estis hat sich vor diesem Hintergrund vertieft mit den realen Fluchtgeschichten von Menschen aus der Ukraine und aus Russland befasst; auch die mehrfache Fluchtgeschichte seiner Familie rückte für den Autor erneut in den Vordergrund, musste doch die Familie schon 1942 aus Kiew vor den Bomben fliehen, was sich jetzt, 80 Jahre später, mit Teilen der Familie wiederholt hat. Diese Ereignisse haben zu einer Erweiterung der Textsammlung geführt, die nun auch leicht fiktionalisierte Fluchtgeschichten von großer Aktualität und Tragik enthält.

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© Mark Prohaska

Literatur zur Folgenlosigkeit

Internetsucht

Alexander Estis

18. Oktober 2022, 11:38 Uhr

Die Hauptstadt der Folgenlosigkeit Heilbronn hat als Stadtschreiber den Autor Alexander Estis einberufen, der sich in seinen Texten mit Phänomenen des Nichtstuns, Unterlassens, Verweigerns, Aufhörens, Weglaufens – und natürlich mit der Vermeidung oder Beseitigung von Folgen befasst.

Es ist Neujahr, und so habe ich mir vorgenommen, weniger Zeit in der virtuellen Welt zu verbringen – oder, genauer gesagt, wieder etwas Zeit in der realen.

Früher gehörte ich nicht zu den Freaks, war weder ein fanatischer Gamer noch ein exaltierter Vlogger oder ein narzißtischer Poster. Meine Lebenszufriedenheit bemaß sich nicht an der Anzahl der Likes, einige wenige gute Freunde waren mir mehr wert als tausend Follower, und Stories aus meinem Leben teilte ich statt innerhalb von fünfzehn Sekunden lieber in solchen zeitlichen Grenzen, wie sie eine Flasche guten Rotweins zwei Menschen gewährt. Ich war also keiner von denen, die den real existierenden Kosmos – sofern sie ihn überhaupt wahrnehmen – höchstens als eine Art Warenlager betrachten, das potentielle Objekte digitaler Verwertung bereithält.

Man kann also sagen, daß ich geradezu altmodisch und der Internetsucht unverdächtig schien. Erst nach und nach wurde ich zu einem ziemlich uptodaten Typ, später, meiner Arbeit wegen, sogar zu einem Power-User und in der Einsamkeit der Pandemie schließlich zu einem hoffnungslosen Dauersurfer.

Jetzt hatte ich FOMO: Plötzlich war es wichtig, fortwährend über die neuesten Beiträge der Bubble auf dem Laufenden zu bleiben. Plötzlich fühlte sich ein Erlebnis, das ich nicht online geteilt hatte, irgendwie unvollständig an. Plötzlich prüfte ich inmitten eines Essens mit meinen Eltern, wie gut mein vor drei Minuten hochgeladenes Video ankam. Plötzlich studierte ich auf der Toilette die Kommentare völlig fremder Personen zu einem Beitrag, den ich nicht einmal gelesen hatte. Plötzlich mußte ich wie aufgrund eines unsichtbaren Zwangs, eines elektronischen Magnetismus binnen weniger Sekunden auf jede noch so belanglose Nachricht reagieren – und die Messenger auch dann immer wieder öffnen, wenn gar keine Meldung erschienen war.

Aber während ich über das Smartphone Nachrichten versende und mich durch die Kopfhörer von der Warteschleifenmusik der Telefongesellschaft berieseln lasse (ich brauche dringend mehr Bandbreite!), schaue ich auf dem großen Bildschirm eine Netflix-Serie und durchforste mit dem Notebook das Internet. Ich bin zugleich in zehn Anwendungen, hundert Fenstern, tausend Tabs unterwegs; ich browse, ich surfe, ich klicke, ich scrolle, ich binge, ich swipe, ich loade, ich streame, ich pinne, ich save, bookmarke und tagge, ich like, ich adde, ich share, ich poste, ich maile, ich chatte, ich slacke, ich tweete, retweete, commente und grinde und flexe – mit einem Wort: ich performe; ich bin in einem irrsinnigen Flow, bin wie ein rasender Virtuose, ein furioser, der gleichzeitig fünf Tastaturen bespielt; mein Zimmer ist ein Tower, flimmernd vor endlosen Bildschirmen, nach allen Himmelsrichtungen entsendet mein Funkmast Signale, hier treffen alle Kanäle zusammen, hier steuere ich den globalen Datentransfer, hier ist das Zentrum des Internets.

Von dieser Höchstleistung bin ich abends derart ermüdet, daß ich die jeweils höchstgerankte Meditationsapp heraussuchen will. Vorher aber muß ich zwingend noch wissen, wie man Coladosen mit einem Strohhalm öffnen kann, wie «Kevin» Macaulay Culkin heute aussieht (»Sie werden es nicht glauben!«) und was die zehn merkwürdigsten Namen sind, die während der spanischen Grippe vergeben wurden; bei Nummer 7, »Ichabod«, falle ich in einen unruhigen Schlaf.

Auf diese Weise gleitet eine Tätigkeit nach der anderen ins Digitale hinüber, virtualisiert sich, verliert ihre Realität. Seit Jahren schon arbeite ich online, wickle die Bankgeschäfte über das Internet ab, bestelle mein Essen mit einer App (leider fehlt mir bislang die Kompetenz, das Essen auch unmittelbar in der App zu verzehren). Draußen erscheine ich kaum noch, und wenn, dann nur noch als Smombie, verloren taumelnd durch die mir fremdgewordenen Straßen, überall anrennend gegen pöbelnde Menschen, geblendet von der längst vergessenen Sonne.

Hätte sich Schwyz aus der Eidgenossenschaft, hätte sich Bayern von Deutschland verabschiedet, ja wäre eine Wirtschaftskatastrophe eingetreten oder gar eine Pandemie ausgebrochen, ich hätte es bestenfalls über Twitter erfahren. Auch dort ließ ich mich inzwischen allerdings immer weniger blicken, denn meine Aufmerksamkeit widmete ich vorwiegend der Kommunikation mit Monika, mit der ich schon seit mehr als einem Jahr eine virtuelle Beziehung führte, ohne je mit ihr gesprochen, geschweige denn sie gesehen zu haben – bis sie von einem Tag auf den anderen all ihre Profile in den sozialen Netzwerken entfernte und sich nie wieder bei mir meldete. Falls sie denn überhaupt Monika war und nicht zum Beispiel ein Niels, oder, was weiß ich, ein Ichabod. Oder sogar ein Chatbot.

Meine Depression ließ ich über Skype von einer Psychologin therapieren, die mir nachdrücklich empfahl, meinen Internetkonsum zu reduzieren. Unter den radikalen Entwöhnungsmaßnahmen, von deren erstaunlicher Wirkung mir meine Therapeutin vorschwärmte, stellte ich mir eine Art Fegefeuer für Internetsüchtige vor: Besessene Posterinnen werden ohne Smartphone auf Reisen zu den instagrammablesten Locations geschickt; professionelle Dating-Ghoster zwingt man zu realen Rendez-Vous, Liebesnächten und dauerhaften Beziehungen; Serienjunkies erhalten Zugriff auf ihre Lieblingsserie, aber der Stream reißt vor der letzten Episode unwiederherstellbar ab; und fiebernde Gamer werden vorgeblich beim Cheaten erwischt und gebannt und müssen tatenlos mitansehen, wie ihre Avatare, ihre Skins, ihre Items der Vernichtung entgegengehen. Diese Schreckensbilder ließen lange Zeit noch nicht einmal einen Gedanken an jedwede Art von Digital Detox zu, ohne daß ich durchaus reale Panikattacken erlitt. Daher riet mir meine Therapeutin, meinen Internetkonsum nicht radikal, sondern schrittweise zu reduzieren und dazu unter anderem solche Programme zu deinstallieren, die ich mit mittlerer Frequenz nutzte. Als erstes deinstallierte ich Skype.

Doch nun, da ein neues Jahr begonnen hatte, stand mein Entschluß, etwas zu ändern, unerschütterlich fest. Ich würde meine Sucht überwinden, würde mir die Realität Stück für Stück zurückerobern, ich würde die beste, die härteste Entzugsmethode durchziehen. Dazu fehlte nur eine Anleitung; ich fing an zu googlen.

Literatur zur Folgenlosigkeit

Takt

Alexander Estis

30. September 2022, 14:53 Uhr

Die Hauptstadt der Folgenlosigkeit Heilbronn hat als Stadtschreiber den Autor Alexander Estis einberufen, der sich in seinen Texten mit Phänomenen des Nichtstuns, Unterlassens, Verweigerns, Aufhörens, Weglaufens – und natürlich mit der Vermeidung oder Beseitigung von Folgen befasst.

Ich bin ein Experte geworden, obwohl ich bloß Ruhe wollte. Wollte arbeiten: Aber da kamen sie. Und so wurde ich ein Experte für den Rhythmus der Tastaturen. Sie kamen, die Kreativen, während ich den schlanken Henkel der Teekanne in seiner biegsamen Flexur bewunderte und einen Gedanken zu fassen versuchte. Dieser, hören Sie, am Nachbartisch, hat einen schwachen Anschlag, nicht nur weil er ebene Knöpfe gewohnt ist, sondern auch weil er verschämt tagebuchartige Lyrik Zeile für Zeile notiert und Zeile für Zeile entfernt. Dieser ist noch recht harmlos. Von den langsameren Manipulatoren sind jene schlimmer, die vorgeben, sich zu bescheiden mit vier, mit drei Fingern, in Wahrheit darin sich ergehen, jeden Schlag nachhallen zu lassen mit voller Pathetik des Ausklangs. Vorgeben, sich zu bescheiden mit kürzesten Worten, mit Twitternachrichten; so teilen sie und bescheiden sich am Tage fast tausendmal. Dagegen steht das rastlose Presto des postenden Webkolumnisten; oder der demonstrativ lässige virtuose Zehnfingerblogger: mein Vorhaben hat er bereits rezensiert, bevor ich den Stift, mich müßig verlierend, nur angesetzt habe. Doch ihn übertrifft bei weitem der Meister, in Kapuzenanzug, mit Capuccino, mit Macchiato am Macbook, ein Priester der Tasten – mit seinen just um das nötige Maß längeren Nägeln gelingt ihm ein raumbeherrschendes, gravitätisch scharfes Taktieren, welches zu fragen scheint: Und du, wieviel Gigabyte Roman hast du?

Literatur zur Folgenlosigkeit

Keinen Roman schreiben

Alexander Estis

13. September 2022, 13:16 Uhr

Die Hauptstadt der Folgenlosigkeit Heilbronn hat als Stadtschreiber den Autor Alexander Estis einberufen, der sich in seinen Texten mit Phänomenen des Nichtstuns, Unterlassens, Verweigerns, Aufhörens, Weglaufens – und natürlich mit der Vermeidung oder Beseitigung von Folgen befasst.

Die erste Voraussetzung, um keinen Roman zu schreiben, ist eine rege Phantasie. Ein Mensch mit schwacher Vorstellungskraft verfällt leicht auf die Idee, sich einen Roman ausdenken zu müssen. Das ist verständlich; so viele schreiben Romane. Unzählbar sind die Anleitungen, wie man einen Roman schreibt, keine einzige rät, wie man sich dessen enthält. Denn es gibt hierzu keinen Königsweg, keine sichre Methode. Man ist auf sich gestellt, geworfen an den Schreibtisch, vor das leere Blatt, das zum Roman verführt. Jetzt hilft es nicht, sich unter dem Tisch zu verkriechen; man muß die Sache mit Geist angehen. Denken muß man. Es sind schon vielbändige Monographien verfaßt, ganze Philosophien erschaffen worden im Bemühen, am Romanschreiben vorbeizu­kommen. Interessen und Berufe wurden erfunden von Menschen, die keine Romanciers sein wollten. Daran erkennt man leicht, daß eine vielfältigere Vernunft zur Unterlassung der Romanschriftstellerei notwendig ist als zu deren Ausübung: Was wurde nicht alles von Menschen erdacht, die keine Romane im Sinn hatten! Während die aufs Romaneschreiben erpichten im Ergebnis eben nur immer Romane vorlegten, und manchmal nicht einmal das.

Sodann diese Romane: wie miserabel, wie langweilig, langatmig und gleich­artig sind die meisten normalen; dagegen wieviel Varianten hervor­ragend unverfaßter Romane!

Auch an der Frist erkenne man, welches Werk das größere sein muß: Es mag noch so viele Jahre dauern, einen Roman abzuschließen – keinen Roman zu schreiben nimmt ein ganzes Menschenleben in Anspruch, und manche scheitern daran noch posthum, weil ein Mystifikator ihren Plan durchkreuzt. Hier bedarf es größtmöglicher Ausdauer und Strenge des Entschlusses. Mithin: Harte Arbeit und bisweilen kräfteaufreibender Widerstand sind unabdingbar. Manch einer scheint noch zum äußersten bereit, wandert durch Wüsten des Orients oder streift durch antarktische Eisfelder, nur der Vermeidung halber, erforscht die Grate kaukasischer Berge, setzt sich Gefahren aus, zieht in Kriege, oder, noch ärger, schreibt Verse; amphibrachische, sapphische, hexametrische, alexandrinisch-heroische; schreibt poetische Prosa, Palindrome, Parabeln und Priameln – aber schreibt beileibe keine Romane! Dazu gehört großer Wille. Dazu gehört auch Glück und Geschick; und es gibt sogar Tage und Stunden, an denen man ganz besonders dazu aufgelegt ist, als ein Genie der Enthaltung, nicht einmal daran zu denken.

Literatur zur Folgenlosigkeit

Faulheit

Alexander Estis

17. August 2022, 23:41 Uhr

Die Hauptstadt der Folgenlosigkeit Heilbronn hat als Stadtschreiber den Autor Alexander Estis einberufen, der sich in seinen Texten mit Phänomenen des Nichtstuns, Unterlassens, Verweigerns, Aufhörens, Weglaufens – und natürlich mit der Vermeidung oder Beseitigung von Folgen befasst.

Ich bin nicht faul: das sieht man schon daran, daß ich die Dinge durchdenke. Nicht immer bis zum Schluß, denn oft lenkt mich ein Gedanke ab. Ein wichtigerer. Ich laufe viel, bisweilen, und wer läuft, ist nicht faul. Faulheit heißt natürlich nicht, auf dem muffigen Sofa eingehüllt in Plüsch die Glieder erschlaffen zu lassen. Und erst recht nicht, zeitgemäß gepflegt zu chillen; das muß kolossal lässig und daher angestrengt sein. Nichts zu tun haben, mit anderen Worten, ist keine gute Faulheit; noch weniger – nichts tun zu wollen. Ohnmächtige Tachinose, hypnotische Apathie, melancholischer Müßiggang, nihilistischer Spleen, Dekadenz obszöner Untätigkeit; stumpfer Phlegmatismus, nachmittägliches Pfeifenpaffen, liegestühliges Sichnichtdanachfühlen, dummdreistes Verpissertum – alles inferiore Faulheiten. Mag Italien so weit vom alten Rom entfernt sein wie das dolce far niente vom ciceronischen Otium: nirgends findet man zwischen den beiden dasjenige, was ich wahre Faulheit nenne.

(Man halte das nicht für Ausreden – ich wollte durch spitzfindige Unterscheidungen mich ausnehmen: Es gibt echte Gründe. Obwohl, gewiß, auch die Rechtfertigung, die Apologie, die Ausflucht, das Sophisma gehört zum Repertoire des Faulen. Viele sagen: Ich bin nicht faul, ich bin Philosoph. Aber die haben überhaupt keinen Begriff von der Sache. Nur daß sie leugnen, ist richtig. Man muß immer leugnen. In der Schwebe des Paradoxen, in der Aufzählung verbleiben. Und dann einfach nichts mehr dazu sagen. – Wer aber geradehin behauptet, er sei faul, der ist ein ganz verlorner Fall. Der will Faulheit einfangen wie Finsternis in eine Flasche. Will sie begrenzen, der arme Trottel, will sie domestizieren. Will sie planen. Will sie vielleicht sogar fälschen, will fleißig gelten. Ach, das ist ganz vulgär!)

Schwache Menschen kennen keine große Faulheit; ihnen fehlt, woran sie überhaupt einen Sieg erringen könnte. Die Faulheit ist eine Kraft, die mit dem Willen in Widerstreit tritt, mit ihm Krieg führt. Nur der große Wille bildet sich grandiose Faulheit heran. Ich muß wollen: eine Expedition, einen Hausbau, einen Marathon, mindestens einen Roman. Und noch dann muß man einiges tun, um eine Faulheit von höherem Wert zu liefern. Halb noch im Begriff zu handeln, aber nur halb, zur Hälfte schon im Nachlassen begriffen, allen Versuch opfernd dem Vielen entgegentrauern, was nicht passieren wird. Nach und nach muß man sich zur Faulheit entschließen, bei vollem Bewußtsein, mit aller Verantwortung ihr die Überlegenheit zuerkennen, die eigene Lebensluft mit diesem Entschluß anfüllen und darauf beharren.

Im Talmud steht – ich habe es nicht überprüft: Aus der Faulheit ersteht ein Golem. Aber schon die Faulheit muß man sich erschaffen, muß sie züchten wie einen Farn. Die Farne sammeln ihren Geruch in der Nacht, während sie eingedreht sind, wachsen in sich hinein, und zum Morgen entfalten sie langsam ihre Blätter und senden ihren modrigen Duft aus. So muß man die Faulheit in der Tiefe aufkeimen lassen, behutsam sie nähren, aus den innern Organen, aus den Nieren sie vorsichtig in kühl rieselnden Strömen führen bis an die Haut, bis an die Poren, und sie endlich freigeben, eine Epiphanie der Unvernunft, ein Triumph der Allaufgabe.

Literatur zur Folgenlosigkeit

Kürzung. Ein Bericht.

Alexander Estis

12. Juli 2022, 22:42 Uhr

Die Hauptstadt der Folgenlosigkeit Heilbronn hat als Stadtschreiber den Autor Alexander Estis einberufen, der sich in seinen Texten mit Phänomenen des Nichtstuns, Unterlassens, Verweigerns, Aufhörens, Weglaufens – und natürlich mit der Vermeidung oder Beseitigung von Folgen befasst.

Dies ist mein letzter Bericht.

Er beginnt trivial, ja sogar auf drollige Art pedantisch, doch das Ende ist tragisch.

1. Endlich mein Romanmanuskript abgeschlossen. Welche Erleichterung. Nun zum Verlagslektor damit, was so viel heißt wie zum Teufel. Habe mir eine Pralinenschachtel gekauft zur Feier des Tages, aber als ich sie verspeisen wollte, vor meinem Sohn zurückgezogen ins Arbeitszimmer, zu triumphaler Trompetenmusik, mußte ich feststellen, daß mehr als die Hälfte der Pralinen entfernt worden war.

2. Der Lektor liest noch. Die Anspannung ist kaum zu erdulden. Wie soll ich mir die Zeit verkürzen? Etwas Neues beginnen ist in dieser Erwartung unmöglich.

3. Mein Sohn leugnet, die Pralinen entnommen zu haben. Lese »Krieg und Frieden«.

4. »Krieg und Frieden« samt Kommentar ausgelesen. Lektor schweigt.

5. Nachricht vom Lektor, ich solle zu einem Gespräch erscheinen. Kaufe mir Anzug und Hut.

6. War beim Lektor. Der Lektor hat gesagt, es sei ein bemerkenswertes Manuskript, ich solle allerdings kürzen, mindestens um ein Drittel. Oder, setzte er mit einem diabolisch-schalkhaften Lächeln hinzu, besser auf ein Drittel.

7. Bin im Ungewissen, ob ich mich geschmeichelt oder empört fühlen soll, und entscheide daher, das Manuskript meinem Sohn vorzulesen: Fast jedes Kindermärchen nämlich, das ich ihm zur Nacht vorlese, befindet er am Ende für zu kurz.

8. Mein Sohn hat nichts gesagt; mitten im Prolog mußte er zur Schule. Daher lautet mein Beschluß: zu kürzen.

9. Heute angefangen. Stellte bei kritischer Lektüre fest, daß die detailverliebten Beschreibungen ohne jedweden Schaden entfernt werden können; strich sie.

10. Eine der Hauptfiguren, der Friseur Holger, den alle »Professor« nennen, ist furchtbar geschwätzig. Er redet mit jedem, und über alles. Zum Beispiel erzählt er in Kapitel siebzehn dem Hund einer älteren Kundin, daß die Zeit erst mit dem Universum entstanden sei und daß es vorher keine Zeit gegeben habe, und das sei sogar ziemlich lang der Fall gewesen. Aber dann sei das Universum entstanden und die Zeit, wie auch alles andere, darunter zum Beispiel – und mit diesen Worten richtet er sich an die Hundebesitzerin – darunter zum Beispiel Inge, die immer diesen unnachahmlichen Kartoffelsalat mache. – Habe Holger in den letzten drei Tagen zu einem wortkargen, mürrischen Eigenbrötler gemacht, den alle »Prof« nennen.

11. Heute geht das Kürzen schlecht voran. Wollte einige philosophische Abschweifungen herauswerfen, geriet dabei jedoch ins Grübeln und schrieb vier Seiten hinzu.

12. Wüßte nicht mehr, was kürzen, ohne den Kern zu gefährden. Mein Sohn sagt: Nimm doch alle bösen Menschen aus dem Buch raus.

13. Gestern hatte ich eine Inspiration und erreichte ein Drittel. Kaufte mir zur Belohnung Pralinen, aber diesmal war noch weniger in der Packung. Schicke dem Lektor das Manuskript mit den Pralinen und der Notiz: Sie wollten ein Drittel.

14. Warte auf Mitteilung; wieder Unruhe. Versuche, aus den herausgekürzten Teilen ein neues Buch zusammenzusetzen, aber sie ergeben keinen Zusammenhang.

15. Erhalte vom Lektor die Pralinenschachtel mit einer einzigen Praline zurück; anbei die Notiz: Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war.

16. Die unzusammenhängenden Reste nenne ich »experimentelle Kurzprosafetzen« und sende sie an einen jungen Verlag.

17. Frage einen Freund, der als Romanautor außerordentliche Erfolge feiert, wie er kürze. Er verrät mir im Flüsterton, er habe dafür eine ganz spezielle Strategie: Die Partien, die er später kürzen werde, baue er schon von Anfang an bewußt in seine Texte ein; daher wisse er später ganz genau, was er streichen müsse. Ich nicke.

18. Gespräch mit Lektor. Er sagt, ich solle noch deutlich stärker kürzen. Beim Wort »deutlich« schiebt er seine Brille mit dem Zeigefinger nach oben; ich muß es also ernstnehmen, todernst, denn mit der Lektorenbrille ist nicht zu spaßen. Nach diesen Worten lacht der Lektor, ebenso ansteckend wie perfide. Noch auf der Straße höre ich aus dem offenen Fenster sein Gelächter dringen.

19. Ich setze die Kürzung fort. Jetzt geht es an die Substanz.

20. Konnte die Nacht nicht schlafen, kämpfte mit empfindlichen Zweifeln, fluchte im Halbschlaf: Ich wollte die Worte des Lektors todernst nehmen; hatte er aber nicht gesagt: stärker? Stärker im Vergleich zur vorherigen Kürzung war die jetzige ja ganz gewiß; aber war sie auch stärker im absoluten Sinne? Heißt stärker nicht, daß man bereits stark gekürzt haben müsse, um nun sogar noch stärker zu kürzen? Und war meine Kürzung vorher überhaupt schon stark? Oder war sie eher gewöhnlich, durchschnittlich, ja sogar mittelmäßig?

21. Vegetiere hin in zermürbender Unsicherheit, innerlich zerfrißt mich die Sorge. Habe meinen Sohn zu seiner Mutter gebracht, um diese Verstrickung ungestört entwirren zu können. Schlafe nur noch vier Stunden, esse einmal am Tag.

22. Erst heute erinnerte ich mich an die Bemerkung des Lektors, es sei besser, auf ein Drittel zu kürzen; ich hatte sie als unlustiges Wortspiel abgetan, doch vermutlich war genau dies seine Definition einer starken Kürzung. Ich sollte also auf ein Drittel kürzen, und danach noch stärker, und zwar deutlich.

23. Gehe ans Werk. Ich kürze nunmehr ganze Ereignisse, ganze Stränge der Handlung, ganze Figurengruppen. Holger fällt der Kürzung zum Opfer. Streiche den Prolog, lasse das Ende offen. Der Roman erhält postmoderne Leerstellen.

24. Nur noch ein Drittel ist übrig. Jetzt kann man die Kürzung stark nennen, das scheint unzweifelhaft; ich kann mich also reinen Gewissens daran machen, noch stärker zu kürzen.

25. Habe den Kern der Geschichte herausgeschnitten und den Protagonisten entfernt: Das macht die Kürzung stärker. Aber deutlich stärker muß sie werden. Und wie das erreichen?

26. Trage diese Schwierigkeit ständig mit mir herum, sodaß ich nur noch eine Dreiviertelstunde schlafe, und selbst die schlecht. Erhalte vom jungen Verlag die Zusage für die Kurzprosafetzen, aber ich darf mich davon nicht ablenken lassen.

27. Nach vielen Stunden, vielen Tagen, vielleicht sogar Wochen des Rätselns verstehe ich, wie ich eine deutliche Kürzung vornehmen kann. Ich muß alle Entwürfe tilgen und jegliche Vorarbeit und vieles andere mehr.

28. Verbrenne alle früheren Werke; das kommt der Kürzung zugute. Fühle mich durchaus befreit, möchte aber nicht dabei stehenbleiben.

29. Merke immer mehr, wie viel man noch kürzen kann. Gehe zum Friseur und zum Schneider. Halbiere die Unterhaltszahlungen für meinen Sohn. Beschränke meinen Wirkungsradius und entferne mich nicht weiter als zweihundertsiebzig Zentimeter von meinem Bett.

30. Heute kürzte ich die Dauer der Tage um acht Stunden, der Tag dauert nur noch sechzehn. Ferner kürzte ich auch die Stunden. Ein paar Minuten vor Mitternacht, um fünfzehn Uhr dreiundzwanzig, fiel mir ein grandioser Irrtum ein: Zwar hatte ich die Entwürfe vernichtet und alle Vorarbeiten zu meinem Roman, doch wußte ich ja noch darum, und wußte sogar noch von deren Inhalt. Außerdem war ich jawohl selbst, als Person, gewissermaßen eine Spur des Romans. Die Kürzung war also längst nicht vollkommen, der Lektor würde mich über die Brille hinweg anschielen und mich auslachen, ganz ohne Frage, in lautestes Hohngelächter würde er ausbrechen und mit dem Huf stampfen im Elffünfteltakt seiner Lachkrämpfe. In Furcht und Verzweiflung radierte ich die gesamte Erinnerung aus und zuletzt meine ganze Existenz. Dieser Bericht ist das einzige, was blieb.

Folgenlose Fotografie?!

01. Mai 2022, 15:47 Uhr — adm

Im Gespräch mit Nico Kurth. Er ist Fotograf und wird die »Hauptstadt der Folgenlosigkeit« fotografisch porträtieren. Seine Bilder werden im Rahmen der reflexiven Abschlussausstellung im Kunstverein Heilbronn zu sehen sein.

Zur Person:
Nachdem ich in Brandenburg seit 1985 eine aufregende Jugend verbracht und in der Dunkelkammer s/w-Handabzüge gemacht hatte (typisch für eine gute Fotografen-Biografie), war mir klar, dass es hier noch mehr zu entdecken geben musste. So studierte ich in Jerusalem und Moskau, assistierte bei namhaften Fotografen in Berlin und Düsseldorf und arbeitete an freien Projekten, etwa in Belfast »Good Walls Make Good Neighbours«. Für meine Diplomarbeit »NIKOSIA the last divided capital« dokumentierte ich die Grenzregion zwischen Zypern und der Türkischen Republik Nordzypern. Das Interesse meiner eigenen Fotoprojekte galt schon immer sozialen und gesellschaftlichen Themen. Nach Abschluss meines Fotografiestudiums 2013 an der FH Dortmund arbeitete ich an verschiedenen Aufträgen und kam über Umwege nach Heilbronn, wo ich seit 2014 mit meiner Frau und bald drei Kindern lebe. Hier arbeitete ich 9 Jahre lang für ein Industrieunternehmen als Content Creator für Foto- und Videoproduktionen. Neben der konzeptionellen Arbeit an Langzeitprojekten fotografiere ich Portraits und Reportagen im Editorialbereich für Spiegel, Focus, WirtschaftsWoche, Zeit Magazin, u.a. aber auch für Firmen und Agenturen. Die verschiedenen fotografischen Bereiche zu bedienen und damit unterschiedliche Perspektiven einnehmen zu können, ist für mich sehr erfüllend, weswegen ich mich dem Projekt »Hauptstadt der Folgenlosigkeit« in einem künstlerischen Prozess auseinandersetzen werde.

Was sind die Pläne für Heilbronn? Wie willst du dich fotografisch/ künstlerisch mit der Folgenlosigkeit auseinandersetzen?
Nach unserem ersten Treffen und inspiriert durch die Auseinandersetzung mit dem Thema Folgenlosigkeit hat sich bei mir direkt eine neue Sichtweise eingebrannt. Plötzlich sah ich überall sich wiederholende Muster, Formen und Strukturen sowie absurde Banalitäten des Alltags, die wunderbar zum Thema passen. Um spontane auf mögliche Motive reagieren zu können, habe ich beschlossen, die Arbeit mit dem Handy zu fotografieren. Für mich als sonst eher technischer Fotograf eine völlig neue Arbeitsweise, die aber durchaus ihre Vorteile hat, da ich mich mehr auf das Motiv konzentrieren kann. Überhaupt sind Handyfotos für mich die »folgenloseste« Form der Dokumentation. Durch die ständige Verfügbarkeit wird jederzeit alles festgehalten und die Fotos verbleiben oft für immer auf den Geräten, um dort in Vergessenheit zu geraten. Was genau mit meinen Fotos passiert kann ich im Moment noch nicht beantworten, merke aber, dass durch das ständige sammeln immer wieder neue Konnotationen entstehen. Neben der ästhetischen Stringenz, die für mich maßgeblich ist, erkenne ich immer mehr die Ambivalenz der Dinge. Durch die Gegenüberstellung von kitschigen Kirschblüten und trist anmutenden Müllbergen entsteht ein neuer Kontext. Folgenlos bedeutet für mich auch immer belanglos - so erscheinen viele Fotos auf den ersten Blick. Durch eine bewusste Bildkuratierung zur Präsentation auf der Abschlussausstellung im Kunstverein Heilbronn (Mai 2023) werden die Fotos dann aus der Belanglosigkeit entzogen - oder eben auch nicht. Ergänzt werden soll die Multimediale-Installation durch Fragmente poetischer Texte und Soundcollagen.

Was bedeutet Folgenlosigkeit für dich und dein Schaffen?
Verzicht.

© Meli Dikta

Der Film und die Folgenlosigkeit

09. April 2022, 01:38 Uhr — adm

Im Gespräch mit Rebecca Panian. Sie ist Dokumentarfilm-Regisseurin und wird die verschiedenen Demokratiefeste im Rahmen der Stipendienvergabe für Nicht(s)-Tun filmisch begleiten und rezipieren.

Was bedeutet Folgenlosigkeit für dich und dein Schaffen?
Ich gebe zu, dass ich anfänglich meine Mühe hatte mit dem Begriff „Folgenlosigkeit“, schließlich möchte ich mit meinen Filmen und meinem Tun genau das Gegenteil: Ich möchte folgen-voll sein, etwas bewegen,
Menschen inspirieren und zum Nachdenken anregen. Dementsprechend ist für mich Erfolg, wenn etwas er-folgt aus dem, was ich anstoße – idealerweise zum Wohle des Planeten und allen Erdlingen.
Und überhaupt: haben wir nicht bis jetzt so gelebt, als gäbe es keine Folgen...?
Das waren meine ersten Gedanken dazu.
„Folgenlosigkeit“ in Bezug darauf, dass wir alle weniger konsumieren, verschmutzen und verschwenden sollten, spricht mich wiederum sehr an. Dazu passt, was Maja Göpel in ihrem Buch „Unsere Welt neu denken“ schreibt – dass ein Mensch, der wenig konsumiert und sich wenig bewegt, gut für die Umwelt ist. Ich selbst
führe ein – materiell gesehen – eher bescheidenes Leben: Ich lebe auf 30 Quadratmetern, kaufe wenig, habe kein eigenes Auto, bewege mich hauptsächlich mit dem Fahrrad und den öffentlichen Verkehrsmitteln, ich habe keine Kinder, rauche und trinke nicht und esse wenig Fleisch (noch nicht keines!) Ich liebe es, mit wenig auszukommen, denn für mich legt die Reduktion viel Energie und Raum frei. Das erlebe ich auch immer wieder beim Filmemachen.
So möchte ich auch mit dem Dokumentarfilm zur Folgenlosigkeit die Menschen zum Mitdenken anregen und im besten Fall Lust machen, selbst etwas nicht mehr zu tun. Und wer weiß: vielleicht wird das Experiment in weiteren Städten durchgeführt und plötzlich verbreitet sich Idee der Folgenlosigkeit wie ein Lauffeuer. Das wäre für mich Er-folg.


Wie willst du dich filmisch mit der Folgenlosigkeit auseinandersetzen?
Folgenloser leben und mehr im Einklang mit der Natur, das ist definitiv anzustreben – und bitter nötig. Im Film möchte ich deshalb auf die bunte und folgenlose (oder vielleicht auch folgenschwere?) Debatte der Stipendien-Vergabe fokussieren, die auf spielerische Art und Weise sehr ernste und wichtige Themen
verhandelt. Veränderung braucht jedoch viele.
Deshalb wird die Game-Show das Herzstück des Films, ein Abend, an dem das Publikum – die Gemeinschaft – sich jederzeit zu Wort melden und Dinge hinterfragen kann und soll. So lernen wir im Film eine Stadt kennen und ganz normale Bürger:innen mit ihren Sorgen, Ängsten und Hoffnungen.
Sie könnten meine Nachbarn sein. Ich könnte selbst im Publikum der Show sitzen und mich fragen: Welche Idee würde ich wählen? Würde ich Einsprache erheben? Oder würde ich mir selbst überlegen, was ich künftig nicht mehr oder zumindest weniger tun könnte?
Was vordergründig wie ein absurdes Schauspiel wirkt (die Vergabe der Stipendien und die Game-Show an sich) hat das Potential, einen echten Diskurs über unsere Werte und Ziele als Gemeinschaft anzuregen.
Im Idealfall inspiriert der Film die Zuschauer:innen dazu das Nicht(s)tun selbst auszuprobieren. Und vielleicht tragen sie die Inspiration weiter und fordern ihre Stadt dazu auf, sich ebenfalls kritisch damit auseinandersetzen, wie wir in Zukunft leben wollen.
So oder so, es wird spannend in der Game-Show und im Film. Überraschungen sind sicher. Der Ausgang ist ungewiss aber sicherlich nicht folgenlos.
Was sind die Pläne für Heilbronn?
Veränderung braucht Mut. Aber genau dieser ist spärlich gesät. Umso grossartiger finde ich es, dass Oberbürgermeister Harry Mergel den Mut hatte, Ja zu sagen zu diesem ungewöhnlichen Jahr. Damit schafft er Raum fürs Um- und Neudenken, was so dringend nötig ist. Ich wünsche mir für Heilbronn, dass diese Stadt als Pionierin für nachhaltiges Leben und mehr Miteinander hervorgeht und andere Städte dazu inspiriert, ebenfalls folgenloser zu werden. Und natürlich hoffe ich, dass auch der Film seinen Teil dazu beitragen kann.
Zur Person:
Nach einem vor-filmischen Leben als Schriftenmalerin, Grafikerin und Flight Attendant, arbeitete Rebecca Panian als TV-Redakteurin für Endemol Deutschland, als freie TV-Redakteurin und Realisatorin für das Schweizer Fernsehen und absolvierte den Bachelor of Arts in Journalismus an der ZHAW (Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften) und den Master in Spielfilmregie an der ZHdK (Zürcher Hochschule der Künste). Ihr erster Kinodokumentarfilm ZU ENDE LEBEN gewann den Audience Award am Zurich Film Festival 2014 und kam im April 2015 in die Schweizer Kinos.
2018 startete Panian das Projekt „Dorf testet Zukunft“. Sie wollte in einem Schweizer Dorf die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens testen, als mögliche Grundlage für ein neues Gesellschaftssystem. Diese Reise wird Teil von ihrem aktuellen Dokumentarfilm IMAGINE sein, ein Film, der dazu ermutigt, die Realität neu zu denken.

© Gianni Pisano

Alexander Estis wird Heilbronner Stadtschreiber

25. März 2022, 11:59 Uhr — adm

Alexander Estis wird nach dem Votum der Jury (Rainer Moritz, Nora Bossong, Claudia Ihlefeld, Heike Gfrereis, Ijoma Mangold und Anton Knittel) Stadtschreiber in Heilbronn. In dieser Funktion wird er von Mai 2022 bis April 2023 in Heilbronn leben und das Projekt »Hauptstadt der Folgenlosigkeit« literarisch rezipieren und begleiten. Wir nutzen die Gelegenheit, um Alexander Estis vorab kurz vorzustellen.

Was sind die Pläne für Heilbronn? Welches Konzept möchtest du während deines einjährigen Aufenthaltes in der Stadt realisieren?

AE: Unter dem Arbeitstitel »Protokolle der Unterlassung« möchte ich den Versuch unternehmen, die Untätigkeit, aber auch die Verhinderung oder den Abbruch von Handlungen literarisch darzustellen. Erscheint das Protokollieren des Folgenlosen geradezu als Paradoxie, so könnte ausgerechnet aus dieser Paradoxie die stilistische wie auch die gesellschaftliche Sprengkraft solcher Protokolle resultieren. Dabei bietet das Festival mit den Stipendien der Folgenlosigkeit die ideale Grundlage für die beobachtende Erforschung verschiedener Arten von Trägheit, Stillstand, Verweigerung und Ausflucht.

Was bedeutet Folgenlosigkeit für dich und dein Schaffen?

AE: Es gibt diesen Witz, in dem der Philosophieprofessor bei einer Prüfung einen Stuhl auf den Tisch stellt und seinen Studenten aufgibt zu beweisen, daß dieser nicht existiert; nur ein einziger Student besteht – er schreibt: »Welcher Stuhl«? In diesem Sinne wäre natürlich die einzig richtige Antwort auf die Frage: Folgenlosigkeit bedeutet für mich und mein Schaffen gar nichts, sonst hätte die Folgenlosigkeit Folgen. Aber vielleicht macht man es sich mit dieser logischen Volte auch zu einfach. Interessant an der Folgenlosigkeit ist nämlich die zunächst triviale Feststellung, daß bereits vorher etwas existieren, etwas passieren muß, das dann folgenlos bleibt. Über das Nichts sagt schließlich niemand, daß es folgenlos sei. Sogleich schließt sich die Frage an, wie es sein kann, daß etwas besteht oder stattfindet, aber keinerlei Folgen verursacht – eigentlich eine physikalische Unmöglichkeit, wenn die Folgen nicht irgendwie beseitigt werden. In der materiellen Welt gilt also, daß Folgenlosigkeit immer erst erzeugt, erschaffen werden muß, daß also eine nicht folgenlose Handlung erforderlich ist, um Folgenlosigkeit herzustellen. Ich glaube, die Einsicht in diese Paradoxie kann zu interessanten Erkenntnissen führen. Aber vielleicht bleibt sie auch, wie so viele Paradoxien, vollkommen folgenlos.

Zur Person:
Alexander Estis wurde 1986 in einer jüdischen Künstlerfamilie in Moskau geboren; hier erhielt er eine Ausbildung an Kunstschulen und bei Moskauer Künstlern. 1996 siedelte er mit seinen Eltern nach Hamburg über. Nach Abschluß des Studiums in deutscher und lateinischer Philologie arbeitete er als Dozent für deutsche Sprache und Literatur an verschiedenen Universitäten in Deutschland und der Schweiz, wo er seit 2016 als freier Autor lebt.

Alexander Estis arbeitet vorwiegend in literarischen Kleinformen; besonderes Kennzeichen seiner Arbeit ist – neben stilistischer Diversität – die Verschmelzung von Satire und Ernst, von Essayistik und Belletristik, von prosaischer und metrischer Form sowie von Wort und Bild.

Zuletzt erschienen als sein fünftes Buch die Legenden aus Kalk bei der Parasitenpresse Köln. Seine Texte werden in Anthologien und Zeitschriften (u.a. Sinn und Form, Lichtungen, Entwürfe) publiziert; außerdem verfaßt er Essays, Glossen und Kolumnen (u.a. für Die Zeit, Deutschlandfunk Kultur, NZZ, Tagesanzeiger, Neues Deutschland).

Alexander Estis ist Mitglied der Vereinigung Autorinnen und Autoren der Schweiz und des Exil-P.E.N. Lesungen seiner Texte finden in Deutschland, der Schweiz und Österreich statt; er hält Vorträge über Literatur und gibt Kurse in literarischem Schreiben. Für seine Texte erhielt er mehrfach Auszeichnungen und Stipendien, darunter den Rolf-Bossert-Gedächtnispreis. Derzeit ist er Stadtschreiber in Köln.

© Arsenij Vinogradov

Ausschreibung als Stadtschreiber:in

02. Februar 2022, 17:56 Uhr — adm

Von Mai 2022 bis April 2023 wird Heilbronn »Hauptstadt der Folgenlosigkeit«. Dabei geht es um die Frage, wie wir vor dem Hintergrund von drängenden Herausforderungen wie dem Klimawandel und der globalen Ungleichheit in Zukunft leben wollen: Wie sieht ein Leben aus, das keine negativen Folgen für andere Menschen, Lebewesen und Materie hat? »Hauptstadt der Folgenlosigkeit« ist ein einjähriges diskursives Kunst- und Stadtentwicklungsprojekt, wir wollen in der Stadt eine lebendige Diskussion anregen, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen.

Gesucht wird nun ein:e Schriftsteller:in, der/die als Heilbronner Stadtschreiber:in, das Projekt »Hauptstadt der Folgenlosigkeit« von Mai 2022 bis April 2023 vor Ort beobachtend begleiten wird. Dazu wird ein Aufenthaltsstipendium in Höhe von 1.500 Euro im Monat vom »Bund der Folgenlosen e.V.« vergeben und eine Wohnung gestellt. Eine regelmäßige Anwesenheit wird erwartet. Mit dem Stipendium sollen Schriftsteller:innen gefördert werden, die neue künstlerische und mediale Formen gesellschaftskritischer Literatur erproben.

Eine Auswahl der Einreichenden wird zu einem virtuellen Vorstellungsgespräch eingeladen. In der Fachjury sitzen u. a. Nora Bossong (Schriftstellerin), Heike Gfrereis (Deutsches Literaturarchiv Marbach), Claudia Ihlefeld (Heilbronner Stimme), Anton Knittel (Literaturhaus Heilbronn), Ijoma Mangold (DIE ZEIT) und Rainer Moritz (Literaturhaus Hamburg). Beratende Mitglieder: Friedrich von Borries, Tobias Frühauf, Philipp Wolpert (Bund der Folgenlosen e.V.)

Formalia

Bewerbungsvoraussetzungen

  • Mindestens eine selbstständige literarische Publikation (nicht im Eigenverlag) oder vergleichbare mediale Form (von Open Mic-Auftritten bis zum Twitterroman)

  • Bereitschaft, die Ereignisse »Hauptstadt der Folgenlosigkeit« im angegebenen Zeitraum kritisch zu reflektieren und in geeigneter künstlerischer Form festzuhalten

Bewerbungsunterlagen

  • Tabellarischer Lebenslauf (max. 1. Seite)

  • Angaben zum literarischen Werdegang (max. 1. Seite)

  • 2 Publikationsbeispiele (max. 10 Seiten Textprobe, bei fremdsprachigen Publikationen zusätzlich Übersetzungsbeispiele)

  • Konzeptpapier über die Vorgehensweise als Stadtschreiber:in

Auswahlprozess

Rückfragenkolloquium
Für alle Interessierten gibt es ein Rückfragenkolloquium am 07. Februar 2022 um 18:00 Uhr.
Anmeldung: stadtschreiber_in@bund-der-folgenlosen.de

Auswahlkolloquium
Eine Auswahl der Einreichenden wird zu einem virtuellen Vorstellungsgespräch eingeladen.

Bewerbungsfrist
Die Einreichungen sind bis einschl. 28. Februar 2022 an stadtschreiber_in@bund-der-folgenlosen.de zu richten. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.